Judith Alberts Arbeiten irritieren das Denken und beflügeln die Sinne. Ihre Arbeit beschäftigt sich immer wieder und unter verschiedenen Aspekten mit der Zeit, dem Raum und dem Körper. Oder besser: Judith Albert beschäftigt sich mit dem Vergehen der Zeit, der endlos gedehnten Zeit und den Spuren, die sie – langsam zerrinnend – hinterlässt. Sie durchmisst den Raum, reorganisiert ihn und behandelt ihn. Sie setzt sich, das heisst ihren Körper dem Raum und der Zeit aus und stellt sich dem Raum und der Zeit entgegen.

Judith Albert installiert, fotografiert und dreht vor allem Videos. Sie zeigt uns schöne Videobilder, langsam sich entwickelnde Handlungen, die nicht im Vordergrund spielen, sondern sich von innen heraus bewegen und entwickeln. Eine von Jan Vermeer inspirierte Magd giesst im Video «Zwischen der Zeit» beispielsweise Milch in ein Becken, die Milch fliesst und fliesst, das Becken wird weder voll, noch versiegt je der Milchfluss. Judith Alberts Videos spielen zwischen einer undeutlich erkennbaren, realen Aussenwelt und einer scheinbaren Innenwelt. Sie messen die Realität an der Imagination und die Natur an der Kunst.

Man könnte auch sagen, Judith Alberts Videoarbeiten seien kurze Gedichte. Am Anfang steht ein einzelner, loser Gedanke, ein Wort, ein Wort-Bild, ein Splitter von einem Wort, von einem Traum vielleicht auch, leicht und schwebend. Vage Bilder verdichten sich beim Schauen und Lauschen, werden in unseren Gedanken präziser, und werden dann allmählich zu unseren eigenen Bildern.

 

Judith Alberts Einladungskarte ...

 

Judith Alberts Auftritt im Schaukasten Herisau besteht aus drei Einzelstücken, die in präziser lyrischer Schlichtheit und ausschweifend epischer Vieldeutigkeit Hand in Hand gehen. Der Titel «Hinter dem Horizont» ist das erste Stück, das Schattenspiel der Einladungskarte das zweite, und die Fotografie im Schaukasten schliesslich das dritte und Hauptstück dieses Triptychons, dieses dreiteiligen oder dreischichtigen Denk-, Seh- oder Assoziationsmodells.

«Hinter dem Horizont» – so beginnen Sätze, die wir aus Geschichten kennen ... Wenn jemand aufbricht in die Welt hinter dem Horizont, dann bricht er zu einer unendlichen Reise auf. Wir wissen auch, wie solche Sätze enden, denn «Hinter dem Horizont» wartet das Ungewisse, das Unbekannte, das Ungeahnte. Einerseits schrecken wir vor dem Horizont zurück, andrerseits zieht er uns an. Das Neue, das Aufregende, das Andere und dann das Exotische und Fremde bergen auch das Potenzial unserer Sehnsüchte.

Judith Albert bezeichnet das Appenzellerland als ein Land der Horizonte. Sie sagt, dass die Fahrten und Wanderungen in die Töbel hinein und auf die Hügel hinauf den Horizont ständig verändern. Einmal liegt er steil über den Bergen, das felsige Gebirge des Alpsteins steht heroisch vor dem Mittagshimmel, dann wieder liegt er – gegen Norden – in weiter Ferne tief über dem lieblichen Flachland ... Beide Horizonte möchten wir gerne erreichen können, den einen, um auf den Berggipfeln stehend festzustellen, dass dahinter andere Berge und Gipfel liegen, den andern mit der Erkenntnis, dass weitere, fernere (Flach-) Länder den sichtbaren folgen.

Und so stellen wir heute, mobiler denn je den Horizonten entgegeneilend, schnell fest, dass es den Horizont nicht gibt, denn indem wir uns in seine Richtung bewegen, verschiebt er sich mit uns, oder wir uns mit ihm ... Eine Metapher, die uns das Fürchten lehren könnte ...

Die Einladungskarte zeigt den Horizont ebenfalls. Zwei Hände spannen ihn auf, eine dicke, blaue Linie, der Ort, wo sich Himmel und Meer berühren, zum Beispiel. Assoziationen voller Sehnsucht, und doch paradox. Wenn wir vorher noch nicht wussten, was hinter dem Horizont liegt, ausser immer neuen Horizonten, dann sehen wir es jetzt: Es ist eine Wand, das Ende, eine Sackgasse. Nur so ist es möglich, dass der Horizont einen Schatten wirft ...

Die berühmten Gefangenen bei Platon sassen in einer Höhle, zwischen dem Horizont und der Wand und sahen nur die Schatten, jene Schatten zum Beispiel von Vorübergehenden und von den Gegenständen, welche diese mit sich trugen, von denen sie allerdings glaubten, sie seien die Wirklichkeit. Hätten sie sich umdrehen können, hätten sie den Irrtum bemerkt. So sind wir nun, verleitet durch eine weitere Geste der Künstlerin, unversehens hinter den Horizont geraten. Immerhin sind wir nicht mehr ganz allein, denn die Künstlerin selber ist jetzt, wir sehen es an ihren Händen, körperlich gewissermassen, anwesend.

 

... und ihre Arbeit «Hinter dem Horizont» für den Schaukasten Herisau.

 

Die Fotografie im Schaukasten bestätigt das alles und treibt das Spiel mit den Horizonten noch weiter. Beginnen wir zuvorderst im Kasten: Hinter dem Glas zeigen die Arme der Künstlerin eine Geste, deuten ihre Arme einen Horizont, eine Landschaft an. Fast, denkt man, könnte es sich dabei um die entsprechende Geste aus der Gebärdensprache handeln ... Dahinter ist eine Wand sichtbar, ein vages Spiel von Licht und Schatten. Vor allem aber wird jetzt die Künstlerin körperlich präsent ... Sie steht hinter der Landschaft, hinter dem Horizont, hinter der Wand. Sie selber, die wir nicht sehen können, steht allerdings wieder vor einer Wand, die sich bei näherer Betrachtung als klassischer Bildträger entpuppt, nämlich als Leinwand, welche ihrerseits wieder vor einer Wand steht, einer frisch gestrichenen Holzplatte nämlich, welche die Rückwand des Schaukastens verkleidet. So wird zuerst die Geste zum Bild, dann wird das Bild der Geste zu einer Art Porträt der abwesenden Künstlerin, einer Fotografie auf Leinwand, gleichzeitig wird es zum Bild im Bild, wobei nicht ganz klar ist, ob nicht allenfalls Person und Landschaft zusammenfallen und sich decken, und beim Ganzen handelt es sich, gemäss Titel, um das Bild «Hinter dem Horizont» im Schaukasten Herisau. Und hier beginnt das Spiel erst, ein vieldeutiges Spiel mit unzähligen Ebenen und Horizonten ...

Es sind immer Kleinigkeiten, die uns ablenken, wenn wir denken, wir hätten ein Bild erfasst. Kleinigkeiten, die uns auf das Bild und dann auf uns selber zurückwerfen, Kleinigkeiten, die an Wichtigkeit gewinnen und der glänzenden Oberfläche dann gewissermassen den Rang ablaufen. Ganz besonders passiert uns das bei den Bildern Judith Alberts.

Matthias Kuhn

 

Weitere Materialien
> Bildergalerie zu Judith Albert

Weitere Informationen
> Judith Albert unter http://www.judithalbert.ch