Der Zürcher Künstler Peter Regli arbeitet seit 1995 an seinem gross angelegten Projektekomplex «Reality Hacking», also an einer Zerhackung, einer Zerlegung, einer Bloss- und Offenlegung der Realität. Auf Einladung oder auch einmal auf eigene Faust nimmt sich Regli bestehender öffentlicher Kontexte an, betrachtet und recherchiert die Situationen und Zusammenhänge vor Ort, deren Umgebung und Szenerien und interveniert dann oder installiert seine (temporäre) Werke. Als Künstler tritt Regli fast vollständig in den Hintergrund, meist taucht nicht einmal sein Name auf. Die Homepage realityhacking.com dokumentiert seine durchgeführten, abgelehnten und in Aussicht stehenden Projekte.

 

Einladung zur Ausstellung mit Peter Regli im Schaukasten Herisau

 

Als ein Beispiel für Peter Reglis Vorgehen kann das Projekt dienen, das er 2007 im Rahmen des Projektes «För Hitz ond Brand» in der Ziegelhütte in Appenzell realisierte. «Reality Hacking Nr. 252» war eine Installation, die Themen der Umgebung subtil aufnahm und ad absurdum führte. Am Kamin der ehemaligen Ziegelbrennerei installierte er eine übergrosse Schwarzwälder Kuckucksuhr samt Kuckuck, mit Pendel und obligaten (Gewichts-) Tannzapfen.

In vielen von Reglis Arbeiten geht es zuerst genau um diese vordergründige Irritation unserer Wahrnehmung. Wenn wir uns die Sache dann allerdings zurechtgelegt haben, führt uns zum Beispiel die befremdliche Uhr sehr schnell auf ganz andere Gedanken. Macht die Uhr nicht letztlich das ganze Innerrhodische zur Stube und sind folglich die kleinen schmucken Bauernhäuser und die bewaldeten Hügel und schroffen Berge Möbel in diesem Wohnzimmer, in dem auch Reglis Kuckuck die Zeit ansagt?

Reglis künstlerische Arbeit besteht also aus subtilen Eingriffen im öffentlichen Raum. Diese Eingriffe bewegen sich oft an der Randzone vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. Da sie oft temporär konzipiert sind, ist es möglich, dass ihre Wahrnehmung erst im Nachhinein erfolgt; dann, wenn die leisen Veränderungen bereits wieder vom Alltag geschluckt wurden und als Erinnerung zurück bleiben. Das anonyme Arbeiten und damit das Fehlen der Autorenschaft ermöglicht vielschichtige Interpretationen.

So hat Regli 1998 in der Sihl, mitten in Zürich auf Trennmauern im Wasser rote Teppiche als Landebahnen für Möven und Enten ausgelegt, über Nacht gewissermassen und klammheimlich. Oder er liess, ebenfalls 1998 für die Dauer einer Ausstellung im Helmhaus die gegenüberliegende Turmuhr an der Fraumünsterpost rückwärts laufen. 1999 beschriftete er in Buyeros, New Mexico, die 65 Kühe einer Herde mit weissen Buchstaben. (Ob die Kühe Sätze gebildet haben, indem sie in der richtigen Reihenfolge nebeneinander frassen, wird aus der Dokumentation nicht ganz klar.) In Manhattan in New York hängte Regli 500 Küchenuhren im öffentlichen Raum auf. Ein Jahr später behängte er Wände an denen das Aufhängen von Plakaten verboten ist, «POST NO BILLS» heisst das mit grossgeschriebenen Lettern, mit insgesamt 300 fotokopierten Bildern von drei Bills: Bill Clinton, Bill Gates und Buffalo Bill. Im selben Januar zeigte eine bestimmte Fussgängerampel, wenn sie auf grün sprang nicht WALK an, sondern TALK. In Jaipur, Indien, liess er 2004 einen pink bemalten Elefanten durch den Morgenverkehr gehen. 2007 schickte er einen Marmorschneemann von 5 Tonnen Gewicht von Vietnam aus auf Welttournee … Man könnte schier endlos aufzählen, wie und wo Regli auf allen Kontinenten spontan oder von langer Hand vorbereitet installiert und interveniert hat. Immer steckt hinter seinen Projekten und Ideen die Absicht, sich in die Umgebung einzufügen, bis zur Unkenntlichkeit oft, aber doch immer irritierend. Und diese Frage der Passanten steht immer im Vordergrund: «Was ist denn hier los?» und «War das schon gestern so?», «Was soll das?».

 

Im Schaukasten liegt derzeit eine Trompete auf rotem Sockel ...

 

Interessant ist, dass die Irritierten, in den allermeisten Fällen keine Kunstrezipienten, nicht zuerst die Frage nach der Kunst stellen. Reglis Projekte drängen sich nicht als Kunst auf. Wie gesagt sind sie zuerst Alltag, das heisst, sie sind einfach da. Punkt. Und man denkt: «Herrgott, wieso sind diese Steine plötzlich rot? Waren diese monumentalen Meteoriten gestern auch schon da? Ein Werbegag? Spielt die Natur verrückt? Was zum Kuckuck ist hier eigentlich los?» Und das beste an diesen oft an Bubenstreiche gemahnenden Kunststücken ist immer: Die Antworten die einem einfallen, wenn man ihnen begegnet, alle, sind immer besser, als die Antworten welche die Kunst anbieten könnte. Die Projekte sind so unverschämt selbstverständlich alltäglich, dass die Kunst und die Theorie nichts mehr zu sagen haben.

 

... die allerdings jeden Freitagabend gegen 18 Uhr in Gebrauch ist.

 

So, und jetzt hackt Peter Regli also die Herisauer Realität, Reality Hacking Nr. 286 benützt den Schaukasten als Depot. Im Kasten liegt auf rotem Sockel eine Trompete, drei Monate lang. Jeweils am Freitag gegen sechs, grad recht zum Feierabend, zum Beginn des Wochenendes, wird der Herisauer Jugendmusikant Samuel Pierri daherkommen, den Schaukasten öffnen und eine Fanfare ins Dorf hinaus trompeten, triumphal vielleicht, feierlich manchmal, wild auch, wer weiss, bläst er zum Angriff, bläst er den Herisauerinnen und Herisauern den Marsch, kündigt er den pompösen Auftritt des neu eingesetzten Monarchen beider Appenzell an? Und in wessen Namen bläst er? Im Auftrag der Obrigkeit? Verliest ein Ratsweibel im Anschluss wichtige Informationen der Regierung? Arbeitet er im Auftrag militanter Appenzeller Revolutionäre und kündigt den Umsturz an, liegen die Kämpfer schon in Stellung? Vielleicht steht er bei der Post unter Vertrag und bläst gewissermassen eine zeitgemässe Postillionsfanfare? Fragen über Fragen ... und alle herrlich anregend. Ich hoffe für ganz Herisau, jeden Freitagabend die nächsten drei Monate ...

Matthias Kuhn

 

Peter Regli (*1959) geboren in Andermatt, lebt in Zürich. 2004 wurde er vom Bundesamt für Kultur mit dem renommierten «Prix Meret Oppenheim» ausgezeichnet.

 

Weitere Materialien
> Bildergalerie zu Peter Regli

Weitere Informationen
> Peter Regli unter http://www.realityhacking.com